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Veranstaltungsreihe „Auseinandersetzungen mit der Gegenwart des Antisemitismus“

In unserer politischen Sozialisation in den späten 1990er und den Nullerjahren spielte die Beschäftigung mit Antisemitismus eine wichtige Rolle. Sie war eine Folge unserer starken Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinem Fortwirken in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften. Der rassistische Vernichtungsantisemitismus des Nationalsozialismus begegnete uns in unserer Gegenwart in neuer Form als Post-Shoah-Antisemitismus: als Schuldabwehr, Holocaustleugnung oder -relativierung und als Täter*innen-Opfer-Umkehr, insbesondere im Zusammenhang mit dem geschichtsrevisionistischen Gedenken zum 13. Februar. Von links  begegnete uns Antisemitismus in Form von verkürzter Kapitalismuskritik und auch als Antizionismus bzw. israelbezogener Antisemitismus.

Das alles geschah unter Abwesenheit von Jüdinnen:Juden. In unseren linken, antifaschistischen Zusammenhängen gab es wenige bzw. keine jüdischen Menschen. Inzwischen ist einiges an Zeit vergangen. Angehörige sowohl der Generation der Enkel*innen der wenigen Jüdinnen:Juden, die sich nach dem Ende des 2. Weltkrieges für ein Leben in der BRD oder der DDR entschieden, als auch der Kinder der als Kontingentflüchtlinge nach der Wende nach Deutschland eingewanderten sowjetischen Jüdinnen:Juden melden sich zu Wort. Sie äußern sich engagiert zu Antisemitismus in all seinen Ausprägungen und zu anderen politischen Themen. Diese Wortmeldungen sind aber so gut wie nie in linke Zusammenhänge eingeladen. Jetzt – da die Möglichkeit der gemeinsamen Auseinandersetzung bestünde – ist Antisemitismus in der linken Szene, abgesehen von wenigen Ausnahmen, kein Thema intensiver Beschäftigung. Dabei ist Antisemitismus aktuell so stark präsent wie lange nicht mehr (antisemitische Beleidigungen, Bedrohungen und Angriffe, der antisemitische Terrorakt in Halle, Verbreitung von Verschwörungsideologien auf Pegidaversammlungen, Shoa-Relativierung auf Demonstrationen gegen die Coronaschutzmaßnahmen etc.) und tritt auch in progressiven Zusammenhängen unverhohlen in Erscheinung (z. B. auf Demonstrationen in Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt, in postkolonialen Debatten oder auf der documenta15). Der Antisemitismus ist massiv und stellt inzwischen wieder eine Bedrohung hier lebender jüdischer Menschen dar. Es hat uns daher irritiert, dass im Juni 2021 nur wenige Linke dem Aufruf des Bündnis gegen Antisemitismus zu einer Solidaritätskundgebung mit der Jüdischen Gemeinde folgten und dass die wenigen Linken mehrheitlich aus der älteren Generation waren. Wir denken, dass es erforderlich ist, wieder stärker die Auseinandersetzung mit Antisemitismus in linken Zusammenhängen zu forcieren. Wir wollen dies gemeinsam mit Jüdinnen:Juden tun – und Möglichkeiten schaffen, sie zu hören. Deshalb planen wir eine Reihe von Veranstaltungen verschiedener Formate. Ein Ende ist erst mal nicht vorgesehen. Wir wollen stattdessen eine fortwährende Beschäftigung mit dem Thema ermöglichen. Wir haben dazu schon einige Ideen zusammengetragen. Vor allem aber wollen wir diese Veranstaltungen, Workshops, Lesungen etc. nicht ausschließlich in der Kosmotique ausrichten, sondern in der ganzen Stadt an vielen verschiedenen Orten organisieren. Und auch nicht allein, sondern mit euch in Zusammenarbeit (September 2022).

Unserer Einladung gefolgt sind das Referat Politische Bildung, die Pirnaer Autonomen Linken, das audioscript.net, das AZ Conni und das Objekt klein a. Wir sind miteinander verabredet, Veranstaltungen in der gemeinsamen Reihe „Auseinandersetzungen mit der Gegenwart des Antisemitismus“ zu organisieren.

Wir dokumentieren die Statements drei der Gruppen, die unserer Einladung gefolgt sind und außerdem die geplanten Veranstaltungen und die, die bereits stattgefunden haben.

Statement des Referates Politische Bildung:

Die Kritik am Antisemitismus ist ein wesentlicher Bestandteil einer Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse. Antisemitismus ist keine verkürzte Kapitalismuskritik, die es einfach zu verlängern gälte, kein bloßes Vorurteil und keine Abart des Rassismus, sondern ein Weltbild und leidenschaftliches Ressentiment, welcher Gegenstand schonungsloser Kritik sein muss, ganz gleich, ob es rechter, linker oder islamischer Erscheinung ist. Galt Dresden einst als Stadt, in der es linker Antisemitismus schwer hatte, leben wir heute in Zeiten, in denen Linke auch in dieser Stadt neue soziale Bewegungen und sich progressiv wähnenden Modetrends, in welchen antisemitischen Denkformen Konjunktur haben, allzu oft mit Gleichgültigkeit oder gar affirmativ begegnen. Wir sehen es daher als schlichte Notwendigkeit, die Linke über sich selbst aufzuklären. Dass wir damit nicht allein dastehen, gibt uns Hoffnung. Als Referat des StuRa der TU Dresden ist uns nicht zuletzt der Hass auf Israel, welcher im universitären Kontext als Kritik verkleidet mit unter zum guten Ton gehört, ein zentraler Gegenstand der kritischen Auseinandersetzung.

Statement der Pirnaer Autonome Linke:

Es sind verrückte Zeiten, in denen wir unsere Teilnahme an dieser Reihe mit Sätzen erklären müssen, die zum festen Repertoire Linker gehörten sollten: „Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“ Wichtig und notwendig ist es (leider), die beiden folgenden Sätze des bekannten Diktums aus Adornos „Negativer Dialektik“ nicht zu unterschlagen: „Dieser Imperativ ist so widerspenstig gegen seine Begründung wie einst die Gegebenheiten des Kantischen. Ihn diskursiv zu behandeln, wäre Frevel.“ Die Gewissheit, dass die Abwehr des Antisemitismus eine der zentralen linken Forderungen ist, verschwand in den letzten zwei Jahrzehnten auch immer mehr aus ehemals „antideutschen“ Kreisen. Und dies trotz dessen auf nationaler wie internationaler Bühne „klassischer“ Antisemitismus rechter bis nazistischer Ausrichtung fröhliche Urständ feiert und in islamischer Ausprägung unter sich progressiv Gebenden beispielsweise in Kassel verteidigt wird. Das liegt nicht zuletzt an einer „Dekonstruktion“ des Antisemitismus, wie er in der Postmoderne betrieben wird. Dafür stehen einerseits Versuche, den Antisemitismus „antirassistisch“ zu „lesen“, d. h. unter den Rassismus zu subsumieren. Andererseits zeigt sich in Debatten um die Shoah und die Erinnerungs- sowie Gedenkkultur (Stichwort: Multidirektionale Erinnerung), wie sehr versucht wird, den Antisemitismus in Form eines neuen Schlussstrichs endlich ad acta legen zu können. Darüber können auch nicht die vielen zivilgesellschaftlichen Projekte hinwegtäuschen, in denen der Antisemitismus kontinuierlich beackert wird, ohne aber das Geringste zu begreifen.

Dem gilt es, mit Kritik der deutschen und internationalen Zustände entgegenzutreten. Deshalb unterstützen wir das Anliegen der kosmotique, die Kritik am Antisemitismus wieder in den Fokus der (radikalen) Linken zu bringen, und beteiligen uns an der Reihe „Auseinandersetzungen zur Gegenwart des Antisemitismus“. Zwar wird auch diese Reihe kaum etwas ausrichten können, doch die verschiedenen Akteure eint (hoffentlich), vergleichbar dem früheren Arbeitskreis Kritik des deutschen Antisemitismus, folgendes: Die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus bedeutet für die Teilnehmenden auch unmittelbar dessen Kritik.

Statement des objekt klein a (oka):

Entgegen des vom hegemonialen Diskurs produzierten Narrativs von der Wiedergutwerdung der Deutschen nach 1945 und im Gegensatz zum deutschen Selbstbild des „Erinnerungsweltmeisters“ ist und bleibt Antisemitismus eine unzureichend problematisierte Ideologie, die eine anhaltende und konkrete Bedrohung für Juden und Jüdinnen darstellt. Dabei sind antisemitische Positionen und Ideologeme nicht nur für neonazistische Überzeugungen konstitutiv, sondern durchziehen alle Bereiche der Gesellschaft. Antisemitismus hat nicht nur in der verschwörerischen Querdenken-Bewegung oder den anti-israelischen Demonstrationen Platz, die Ideologie durchzieht ebenso den Kulturbereich. Das verdeutlichen nicht nur die Vorfälle im Zusammenhang mit der documenta15 oder die in jüngster Vergangenheit stattgefundenen Konzerte des Pink Floyd – Mitbegründers Roger Waters. Auch die sich als besonders progressiv verstehende und das Selbstbild einer emanzipatorischen Szene vor sich hertragende, elektronische Musikszene ist davon nicht ausgenommen, wie etwa die aus BDS-nahen Kreisen initiierte Boycott-Kampagne #DJsForPalestine zeigt. Für uns als Klub und Ort für Subkultur ergibt sich aus dieser Situation die unbedingte Notwendigkeit – nicht nur, aber insbesondere – die eigene Szene und die eigenen Strukturen einer kritischen Selbstbefragung zu unterziehen. Aus diesem Grund sind wir dem Aufruf der kosmotique gefolgt und hoffen, gemeinsam mit unseren Kooperationspartner:innen, Impulse für eine Auseinandersetzung mit dem Problem Antisemitismus setzen zu können, die auch Menschen außerhalb der linken und universitären Blase erreichen.

Geplante Veranstaltungen:

Workshop „Antisemitismus als Erfahrung und Phänomen“
Sonnabend, 01.06.2024, 14:00 – 17:15
kosmotique, Martin-Luther Str. 13

Veranstaltungen, die bisher stattfanden:

Die Demokratiebewegung in Israel vor und nach dem 7. Oktober – Vortrag und Gespräch mit Yuval Rubovitch
Sonntag, 25.02.2024, 16:00 Uhr
kosmotique, Martin-Luther Str. 13 und digital

Nazis und der Nahe Osten. Wie der islamische Antisemitismus entstand – Vortrag von Matthias Küntzel
Mittwoch, 21.02.2024, 19:00 Uhr
Schumann Bau A118/H (Münchener Platz 3)

Antisemitismus – Ausdruck eines reaktionären Antikapitalismus, Vortrag von Moritz Zeiler
Donnerstag, 15.02.2024, 19:00 Uhr
Schumann Bau A118/H (Münchener Platz 3)

Erinnern als höchste Form des Vergessens?
(Um-)Deutungen des Holocaust und der „Historikerstreit 2.0“
Buchvorstellung und Gespräch mit Steffen Klävers, Felicitas Kübler und Marc Seul

Dienstag, 19.12.2023, 19:00 Uhr
objekt klein a (oka), Meschwitzstraße 9

Dresdner Erinnerungskultur – Zwischen Gegenwartsbewältigung und Versöhnungstheater? – Lesung und Podiumsdiskussion mit Max Czollek (Autor von u.a. „Versöhnungstheater“) und Dr. Christina Ludwig (Direktorin des Stadtmuseums Dresden)
Dienstag, 07.11.2023, 18:00 Uhr
Gedenkstätte Bautzner Straße, Bautzner Straße 112a

Judenhass Underground: Antisemitismus in emanzipatorischen Subkulturen und Bewegungen, Diskussion und Gespräch mit Nicholas Potter, Annica Peter und Maria Kanitz, moderiert von Michael Nattke (Kulturbüro Sachsen)
Donnerstag, 19.10.2023, 19:00 Uhr (18:00 Uhr Einlass)
objekt klein a (oka), Meschwitzstraße 9

„Ich komme noch einmal auf den Täter zurück …“ – Antisemitismus, Rassismus und die übersehene Frauenfeindlichkeit des Attentäters von Halle
Donnerstag, 14.09.2023, 19:00 Uhr, kosmotique

Antisemitismus und Postkolonialismus, Vortrag von Jan Gerber
Dienstag, 13.06.2023, 19 Uhr
TU Dresden, ZEU/255/U (Zeuner-Bau 255/U), Mollier-Bau, George-Bähr-Straße 3

Einstand des Sinnlosen. Zu Theodor W. Adornos Ästhetik nach Auschwitz mit Aljoscha Bijlsma
Mittwoch, 24. Mai 2023, 19 Uhr

Wo ist das Lumbung*, in dem Antisemitismus Gewicht hat? Oder lässt sich auf dem Teppich nicht über Antisemitismus sprechen? – Die lange Nacht zur Kritik an der documenta15
Donnerstag, 20. April 2023, 17:00 Uhr

„Phantastische Gesellschaft“ – Lesung und Gespräch über falsche und imaginierte Familiengeschichten zur NS-Verfolgung mit Clemens Böckmann und Johannes Spohr
Donnerstag, 30. März 2023, 19:00 Uhr

Der Antisemitismus des iranischen Regimes. Das Herrschaftssystem der „Islamischen Republik“ und der Hass auf Israel mit Stephan Grigat
Dienstag, 14. März, 19:30 Uhr

»Gojnormativität« – Buchvorstellung und Diskussion mit Judith Coffey und Vivien Laumann
Sonntag, 18. Dezember 2022, 15:00 Uhr

Arbeit, Dienst und Führung. Der Nationalsozialismus und sein Erbe mit Nikolas Lelle
Donnerstag, 27. Oktober 2022, 20:00 Uhr

Filmabend „Widerstandsmomente“ mit Jo Schmeiser
Samstag, 24. September 2022, 19:00 Uhr

Things. Places. Years. und Liebe Geschichte – ein Sommerkino in der kosmotique
Freitag, 19. August 2022, 17:00 Uhr